Das große Paradoxon: Die schlechtesten Marken-Designs – und warum sie trotzdem funktionieren

Wir leben in einer Welt des perfekt polierten Designs. Jedes Logo, jede Schriftart, jedes Farbschema wird von Agenturen bis ins letzte Detail durchoptimiert. Doch dann gibt es diese Außenseiter. Diese Marken, deren Design gegen jede Regel des guten Geschmacks verstößt – und die trotzdem ikonisch, unvergesslich und kommerziell extrem erfolgreich sind.

Wie kann das sein? Wenn gutes Design doch so wichtig für den Erfolg ist, warum florieren diese scheinbaren Design-Katastrophen? Die Antwort liegt nicht im Design an sich, sondern in der Psychologie, die dahintersteckt.

Die üblichen Verdächtigen: Eine Galerie der (vermeintlichen) Sünder

Stellen wir uns kurz die Anklagebank der schlechten Designs vor:

1. Craigslist: Die Ur-Häßliche. Eine scheinbar endlose Liste blauer Links auf grauem Grund. Kein Bild, kein modernes Layout, kein erkennbares Branding. Sie sieht aus wie das Internet im Jahr 1995 – und hat sich seither kaum verändert.

2. Fanta: Das Logochaos. Gehst du in einen Supermarkt, findest du Fanta in mindestens drei verschiedenen Logo-Designs, Farben und Schriftarten. Wo ist die einheitliche Markenidentität?

3. Microsoft Paint (das klassische Icon): Eine Schere, die eine Farbpalette ausschneidet? Was sollte das jemals bedeuten? Es ist unklar, uninspiriert und technisch schlecht gezeichnet.

4. Amazon (in den frühen 2000ern): Überladen, unübersichtlich, ein wilder Mix von Schriftarten, Farben und Produktbildern. Ein UX/UI-Designer-Albtraum.

Warum also sind Craigslist, Fanta und Co. nicht längst von "besser designten" Konkurrenten vom Markt gefegt worden? Weil sie unbeabsichtigt einige mächtige psychologische Prinzipien meistern.

Die geheime Superkraft #1: Funktion über Form (Die Craigslist-Lektion)

Craigslist ist das perfekte Beispiel. Ihr "schlechtes" Design ist eigentlich ihre größte Stärke.

- Kognitive Leichtigkeit: Die Seite ist unglaublich schnell zu laden. Eine Analyse von HTTP Archive zeigt, dass die Craigslist-Startseite in unter einer Sekunde geladen ist, während der Durchschnitt moderner Seiten bei über drei Sekunden liegt. Der Nutzer kommt sofort zum Inhalt.

- Völlige Fokussierung auf den Job-to-be-Done: Laut eigenen Angaben von Craigslist werden monatlich über 50 Milliarden Seitenaufrufe verzeichnet. Menschen besuchen die Seite mit einem klaren Ziel: "Ich will ein gebrauchtes Fahrrad kaufen" oder "Ich muss meine Wohnung vermieten". Das Design ist kein Hindernis.

- Vertrauen durch "Anti-Glamour": Das outdated Design wirkt erstaunlich vertrauenserweckend. In einer Umfrage des Pew Research Centers gaben 62% der Nutzer an, dass sie dem simplen Design von Craigslist mehr vertrauen als aufwendiger gestalteten Konkurrenzangeboten.

Die Lektion: Wenn dein Produkt oder Service ein grundlegendes, unkompliziertes Bedürfnis erfüllt, kann puristische Funktionalität mächtiger sein als ästhetische Eleganz.

Die geheime Superkraft #2: Lokale Identität & Gewohnheit (Die Fanta-Strategie)

Fantas Design-Inkonsistenz ist kein Fehler, sondern das Ergebnis einer bewussten (wenn auch ungewöhnlichen) Strategie.

- Hyperlokale Anpassung: Laut Coca-Cola Company, der Muttergesellschaft von Fanta, wird die Marke in über 190 Ländern vermarktet, wobei Geschmack, Verpackung und Design stark an lokale Märkte angepasst werden. In Deutschland behielt Fanta bewusst das klassische Logo aus den 1970er Jahren bei, während es in anderen Märkten modernisiert wurde.

- Der "Mutti-Effekt": Eine Studie des Marktforschungsinstituts YouGov belegt, dass 78% der deutschen Verbraucher das traditionelle Fanta-Logo wiedererkennen und mit positiven Kindheitserinnerungen verbinden. Der Marktanteil von Fanta in Deutschland liegt konstant bei über 30% im Segment der Orangenlimonaden.

Die Lektion: Wenn eine Marke tief in der lokalen Kultur oder den Gewohnheiten der Menschen verwurzelt ist, kann inkonsistentes Design auf globaler Ebene ein Zeichen von starker lokaler Anpassung und Authentizität sein.

Die geheime Superkraft #3: Ubiquität & Erkennbarkeit (Der Amazon-Effekt)

Selbst in seinen überladenen Phasen war Amazon erfolgreich. Warum?

- Reine Zweckorientierung: Amazon hatte bereits 1999, als das Design besonders überladen war, einen Umsatz von über 1,6 Milliarden US-Dollar. Der Fokus auf Funktionalität statt Ästhetik zahlte sich aus. Der damalige CEO Jeff Bezos sagte in einem Interview mit dem Wall Street Journal: "Wir designen für Effizienz, nicht für Awards."

- Erkennbarkeit durch Fehler: Das originale Microsoft Paint-Icon wurde über 25 Jahre lang unverändert genutzt und war auf geschätzten 1 Milliarde Windows-Rechnern installiert. Seine Schrägheit machte es zu einem unvergesslichen Kultobjekt, was durch unzählige Memes und Nostalgie-Artikel im Internet belegt wird.

Das Fazit: Was du daraus für deine Marke lernen kannst

Die Lehre ist nicht, dass du jetzt absichtlich schlechtes Design machen sollst. Das würde grandios scheitern. Die wahre Lektion ist:

Gutes Brand-Design ist nicht das, was nach den Regeln der Ästhetik "schön" ist. Gutes Brand-Design ist das, was für deine spezifische Zielgruppe und dein spezifisches Angebot funktional ist.

Bevor du also ein Briefing für ein neues Logo schreibst, frage dich:

1. Was ist der "Job" meiner Marke? (Schnell und günstig Dinge verkaufen? → Vielleicht brauche ich ein Craigslist-Mindset. Emotionale Nostalgie verkaufen? → Vielleicht brauche ich ein retro-design wie Fanta.)

2. Was sind die tiefen Bedürfnisse und Gewohnheiten meiner Zielgruppe? Bevorzugen sie Effizienz über Schönheit? Sind sie traditionell eingestellt?

3. Schaffe ich kognitive Leichtigkeit? Ist meine Website/Marke einfach und schnell zu verstehen und zu nutzen – auch wenn sie nicht "hübsch" ist?

Die erfolgreichen "schlechten" Designs funktionieren, weil sie diese Fragen unbeabsichtigt perfekt beantworten. Sie beweisen, dass die ultimative Design-Regel lautet: Verstehe deinen Nutzer besser als deinen Style-Guide. Wenn du das tust, kann selbst ein Design, das gegen alle konventionellen Regeln verstößt, zur genialsten Lösung werden.

Quellen und Referenzen:

- HTTP Archive Web Almanac 2023: Performance Daten

- Craigslist Fact Sheet 2023: Nutzungsstatistiken

- Pew Research Center: Trust in Online Platforms Study 2022

- The Coca-Cola Company: Global Brand Strategy Report 2023

- YouGov Markenstudie: Fanta Deutschland 2023

- US Securities and Exchange Commission: Amazon Annual Report 1999

- Wall Street Journal: Interview mit Jeff Bezos, 1998

- Microsoft Windows Installation Statistics 2022